20 feb 2014

Rede der niedersächsischen Sozialministerin Cornelia Rundt in der 919. Sitzung des Bundesrates am 14.02.2014





















 Zu TOP 17, BR-Drs. 791/13
Mitteilung der Kommission an …: Freizügigkeit
der EU-Bürger und ihrer Familien: fünf
grundlegende Maßnahmen
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
in den letzten Wochen und Monaten hat uns ein
Thema beschäftigt, welches nahezu alle
gesellschaftlichen Ebenen berührt und mehr als
aktuell ist:
Migrationsbewegungen in Europa und im besonderen
in der EU.

Und um das gleich zu Beginn klarzustellen: wir
sprechen hier nicht über irgendwelche nachrangigen
Rechte, die sich als Nebenprodukte des Europäischen
Einigungsprozesses ergeben haben, sondern über die
Grundfreiheit des Europäischen Binnenmarktes
schlechthin!
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gibt schon seit den
1960er Jahren allen EU-Bürgerinnen und –bürgern
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das Recht, in einem anderen Mitgliedsland zu leben
und zu arbeiten. Das ist ein hoher Wert, der in keinem
Fall eingeschränkt werden darf.
Seit dem 1. Januar 2014 dürfen nun auch Bulgarinnen
und Bulgaren sowie Rumäninnen und Rumänen wie
alle anderen EU-Bürgerinnen und –bürger frei wählen,
wo in der EU sie leben und arbeiten wollen. Dies
sehen manche als Problem an – ich sehe es
zuallererst als Chance, sowohl für die betroffenen
Menschen als auch für die aufnehmenden Staaten.
Ich erinnere daran, dass bereits 2011 die letzten
Schranken für Esten, Letten, Litauer, Polen,
Slowaken, Slowenen, Tschechen und Ungarn gefallen
sind. Schon damals gab es nationale Ängste vor einer
sogenannten „Einwanderung in die Sozialsysteme“ -
die sich nicht bestätigt haben.
Das Gegenteil war und ist der Fall. Darauf wies z.B.
das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung in einer Studie im letzten Sommer
hin: Als nach der ersten Runde der EUOsterweiterung
die Freizügigkeit für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den
betreffenden Ländern galt, sind die
Arbeitslosenquoten und der Anteil von Hartz IV3
Empfängern in Deutschland sogar gesunken. Wohl
auch dadurch, dass bereits hier lebende Migrantinnen
und Migranten von einer irregulären in eine reguläre
Tätigkeit wechseln konnten. Mit allen Vorteilen für die
Würde der Menschen, aber auch für den Fiskus und
die Sozialversicherung!
Die Zuwanderung stellt also vielmehr einen Gewinn
für Deutschland (und andere Zuwanderungsländer)
dar – wir profitieren von dringend benötigten
Fachkräften nicht nur in naturwissenschaftlichen und
technischen Bereichen, sondern auch im
Dienstleistungsbereich, insbesondere in der Pflege
und letztlich auch durch die Einzahlungen u.a. in die
Sozialsysteme.
Daher bin ich mit der EU-Kommission der Auffassung,
dass die Ängste vor einer sogenannten
„Armutszuwanderung“ wieder einmal übertrieben
formuliert werden. Nur einige wenige Zahlen zur
Verdeutlichung: von den rund 6 Mio. Menschen, die in
Deutschland im September 2013 von
Sozialhilfeleistungen profitiert haben, waren gerade
einmal 18.000 Rumäninnen und Rumänen – also
etwa 0,4 %. Bei uns in Niedersachsen gab es rund
580.000 Bezieher dieser Hilfen; von ihnen waren noch
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nicht mal 1.000 Rumäninnen und Rumänen. Diese
Quote von 0,17 % stellt für mich jedenfalls keine
Gefahr des sozialen Sicherungssystems dar.
Eine Änderung des EU-Rechts, wie von mancher
Seite gefordert, ist vor diesem Hintergrund derzeit
weder notwendig, noch wünschenswert und würde
Stimmungen befördern, die wir übrigens im Kontext
mit den jüngsten Entscheidungen in der Schweiz
gerade beklagen.
Allenfalls sind rechtsvereinfachende Regelungen zur
Steigerung der Anwenderfreundlichkeit erforderlich,
die uns zu mehr Rechtssicherheit verhelfen – auch im
Interesse der zuwandernden Menschen. Zunächst
sollte aber die Rechtsprechung des EuGH abgewartet
werden, der sich in einem konkreten Fall mit der
Frage befasst, ob und unter welchen
Voraussetzungen andere EU-Bürgerinnen und –
bürger in Deutschland Anspruch auf Hartz IVLeistungen
haben.
Anrede,
die gegenwärtige Diskussion um die Einwanderung
von Menschen aus den Mitgliedstaaten der EU zeigt
ein hohes Maß an Verunsicherung und
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unzureichender Information, wenn nicht
Desinformation. Ängste werden geschürt und
populistische Vorurteile werden bedient.
Diese Debatte hat bei uns den fatalen Eindruck
erweckt, alle Menschen aus Bulgarien und Rumänien
seien sogenannte „Armutszuwanderer“ und viele von
ihnen auch „Sozialbetrüger“. Das ist inhaltlich gänzlich
falsch und eine gefährliche Diskussion. Hier müssen
wir die Debatte versachlichen – es kann nicht sein,
Menschen allein darauf zu reduzieren, aus welchem
Land sie zu uns kommen.
In den meisten wirtschaftlich starken Gesellschaften,
die in den nächsten Jahren schrumpfen werden,
werden Fachkräfte gesucht. Diese Menschen werden
sich für Deutschland nur dann entscheiden, wenn sie
hier außer guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt
auch attraktive Lebensbedingungen für sich selbst
und ihre Familien vorfinden. Daher brauchen wir vor
allem eine Willkommens- und Beratungskultur sowie -
struktur, die sich nicht nur auf die Unterstützung der
Neuankömmlinge bei der Ankunft, dem Spracherwerb
und dem Einleben in unsere Gesellschaft reduziert.
Zur Willkommenskultur gehört auch der allgemeine
wertschätzende Umgang mit Vielfalt in unserer
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Gesellschaft; ein Beitrag seitens der
Mehrheitsgesellschaft, der zugleich Diskriminierungen
vermeidet.
Wir haben uns für ein freies und solidarisches Europa
entschieden. Ein Europa, das nicht nur zum
einseitigen Vorteil weniger gereicht, sondern das zu
einer Verbesserung der Lebensbedingungen aller
Bürgerinnen und Bürger in Europa führen soll.
Mit einer solchen Vorstellung von Europa ist es nicht
vereinbar, alle Vorteile einer freien Zuwanderung
haben zu wollen, aber den weniger oder gering
Qualifizierten den Zutritt zu verwehren. Diese
Menschen, die in ihren Herkunftsländern ein hartes
Leben führen, so zu stigmatisieren ist falsch.
Es ist genauso falsch, wie die jahrelange Praxis, die
wir leider auch in Niedersachsen kennen und
bekämpfen, diese Menschen unter unerträglichen
Bedingungen auszubeuten. Das Thema
Werkvertragsarbeitnehmer spielt in diesem
Zusammenhang eine leider bisher sehr unrühmliche
Rolle. Immer wieder kommt es im Rahmen dieses
Vertragskonstrukts zu Fehlentwicklungen und
menschlichen Tragödien – vielen Unternehmern
scheint jedenfalls der Begriff „Menschenwürde“ bei
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der Ausgestaltung und Einhaltung der Verträge nicht
besonders nahe zu liegen. Andererseits zeigt doch
gerade dies Thema sehr deutlich, dass nicht die
zuwandernden Menschen das Problem sind, sondern
vielmehr die in dem aufnehmenden Land
herrschenden Rahmenbedingungen. Das bedeutet
klipp und klar: wir stehen in der Pflicht - wir müssen
dafür sorgen, dass insbesondere die Wohn- und
Arbeitsbedingungen menschenwürdig gestaltet
werden – wir müssen darauf achten, dass
Werkvertragsunternehmer die ihnen auferlegten
Pflichten gegenüber den
Werkvertragsarbeitnehmerinnen und –arbeitnehmern
erfüllen und Werkverträge nicht dazu genutzt werden,
Arbeitnehmerschutzrechte, und damit eine gerechte
Bezahlung, zu unterlaufen. Wir würden nichts anderes
erwarten, wenn wir mit dem Ziel der Arbeitsaufnahme
in ein anderes Land der EU gehen.
Dabei wissen wir alle, dass wir in Deutschland nicht
alleine die Probleme aller Mitgliedsländer lösen
können.
Aber: Wenn es um unsere Verpflichtung gegenüber
anderen EU-Staaten geht, verweisen wir gern auf die
Europäische Kommission, die sich darum kümmern
möge. Ist das der europäische Geist, dem wir uns vor
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Jahrzehnten verpflichtet haben? Ist das der Geist, mit
dem wir Städtepartnerschaften und
Schüleraustausche herstellen und pflegen?
Anrede,
soweit aus der Zuwanderung neben deutlichen
Gewinnen für die Länder, in die die Zuwanderung
erfolgt, zunächst auch einige wenige Belastungen
entstehen, weil eben auch sehr arme und mitunter
auch wenig gebildete Menschen zuwandern, haben
wir es jedenfalls nicht mit flächendeckenden
Problemen zu tun.
In einigen Großstädten und Bezirken in Deutschland
wie z.B. Duisburg, Dortmund, Köln, Berlin gibt es in
der Tat Herausforderungen, wenn es um die
Integration weniger qualifizierter Zuwanderinnen und
Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien geht. Das
haben durch direkte Anschauung in den letzten Tagen
auch Mitglieder der EU-Kommission, z.B. Kommissar
Andor, erfahren.
Diese Herausforderungen, denen man sich vor Ort mit
zum Teil großem Engagement stellt, dürfen natürlich
nicht allein Sache der betroffenen Städte und
Kommunen sein. Vor allem Bund und Länder sind hier
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gefordert, Unterstützung zu leisten. Aber auch die
europäische Ebene muss und wird dazu beitragen,
die Ungleichheiten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten
zu verringern.
Dazu ist z.B. auch der Aufbau einer besseren
Infrastruktur in den betroffenen Ländern wichtig.
Dadurch würde die Möglichkeit gestärkt, alle
bereitstehenden EU-Fördermittel sinnvoll und vor
allem schnell einzusetzen, um den Städten und den
Menschen vor Ort zu helfen.
Anrede,
lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
zu unserer historischen Verantwortung machen: Ein
Teil der Zuwanderer und Zuwanderinnen über die wir
hier reden, sind osteuropäische Roma. Mit ca. 12
Millionen Menschen bilden die Roma die größte,
anerkannte Minderheit in Europa. In den letzten
Jahren hat sich ihre soziale Lage vor allem in den
osteuropäischen Ländern dramatisch verschlechtert.
Neben einer hohen Arbeitslosigkeit, haben sie fast
immer mit gesellschaftlichen Vorurteilen und offenen
Diskriminierungen zu kämpfen.
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Deutschlands historische Verantwortung gegenüber
diesen Menschen ist groß, egal, ob sie deutsche
Staatsbürger, Zuwanderer aus EU-Mitgliedsstaaten
oder Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien
sind. Ihre Vorfahren wurden bei uns zu Zeiten des
Nationalsozialismus verfolgt, 500 000 Sinti und Roma
wurden Opfer des Holocaust. Sie werden nach wie
vor diskriminiert und ausgegrenzt.
Wir dürfen es nicht zulassen, dass zu Lasten dieser
Minderheiten Wahlkampf betrieben und mit den
Ängsten der Menschen in unserem Land vor einer
angeblichen Überforderung unserer Sozialsysteme
gespielt wird. Es ist unsere Aufgabe, den zu uns
kommenden Menschen eine gleichberechtigte
gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Die Erkenntnis des Europäischen Rats zu Beginn des
Jahrtausends war doch die, dass wir die gute
wirtschaftliche Entwicklung nicht von der Bekämpfung
von Armut und Ausgrenzung trennen können. Dass
wir eine gemeinsame Entwicklung anstreben müssen
und uns nicht darauf beschränken dürfen, den
eigenen kurzfristigen Vorteil im Auge zu behalten.
Unsere Zukunft liegt in der grundlegenden
Verbesserung der Zusammenarbeit, als Basis unserer
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Wettbewerbsfähigkeit. Um hier Fortschritte zu
erzielen, müssen wir die Dinge aktiv in die Hand
nehmen, die Probleme identifizieren und analysieren,
Lösungen suchen, gemeinsam mit unseren Partnern
in den anderen Ländern. Was wir nicht dürfen, ist uns
jammernd zurückziehen, nach der Europäischen
Kommission rufen und das hohe Gut der Freizügigkeit
nach Gutsherrenart verteilen.
Wie mir EU- Kommissar Andor, mit dem ich in der
vorletzten Woche in Brüssel ausführlich auch über
dieses Thema gesprochen habe, zugesichert hat, wird
uns die EU-Kommission in unserem Bemühen um die
Lösung der Probleme nach Kräften unterstützen.
In diesem Sinne appelliere ich an Sie, die Mitteilung
der Kommission nicht lediglich zur Kenntnis zu
nehmen, sondern sie durch eine eigene positive
Stellungnahme zu unterstützen, die den komplexen
Aufgaben gerecht wird und unsere eigene
Bereitschaft ausdrückt, an dieser wichtigen
Zukunftsaufgabe Europas mitzuwirken.
Vielen Dank!

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